Schon vor dem Ausbruch des 2. Weltkrieges emigrierten hunderttausende Juden und politisch Verfolgte aus Deutschland. Während des Krieges befanden sich allein aus dem Deutschen Reich 12 Millionen Menschen auf der Flucht. Insgesamt muss festgehalten werden, dass zum Zeitpunkt des Kriegsendes mehr als 60 Millionen Menschen in Europa ihre Heimat verloren hatten. Geprägt von den Jahren der nationalsozialistischen Terrorherrschaft und des Krieges schrieben die Väter und Mütter des Grundgesetzes in den Artikel 16 unserer Verfassung: “Politisch Verfolgte genießen Asylrecht”. Dieser Artikel ist unser Bekenntnis zu Solidarität und den Menschenrechten.
Zudem erhalten Menschen, die in ihrem Heimatstaat auf Grund ihrer Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe bedroht, aber nicht nach dem Grundgesetz asylberechtigt sind, als so genannte Konventionsflüchtlinge Aufnahme. Die von Deutschland sowie mehr als 140 weiteren Staaten unterzeichnete Genfer Flüchtlingskonvention garantiert ihnen seit 1951 Schutz vor Abschiebung. Auch Menschen aus Kriegs- und Bürgerkriegsregionen haben als Kontingentflüchtlinge ein dauerhaftes Bleiberecht.
Jeder Mensch, der einer dieser Gruppen zugehörig ist, hat also das Recht in Deutschland einen Antrag auf Asyl zu stellen und ein Recht darauf, dass dieser geprüft wird. Die Entscheidung, ob der Antrag positiv entschieden oder abgelehnt wird, trifft das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nach klaren Rechtsvorschriften. In Zeiten zunehmender Krisen- und Kriegsregionen in der Welt steigt natürlich die Zahl der Asylantragssteller. Im Juni 2015 waren das in der BRD 179.037 Anträge, Tendenz steigend. Das stellt unseren Staat und die Zivilgesellschaft vor große Herausforderungen. Besonders der Anspruch einer dezentralen Unterbringung in Wohnungen kann in vielen Regionen und Städten nicht mehr verwirklicht werden und auch Anhalt-Bitterfeld kommt bzgl. dieses Vorhabens an seine Grenzen. Es müssen Lösungen her. Dazu ist es aber unerlässlich in eine öffentliche und konstruktive Debatte zu gehen. Diese ist aber derzeit nur schwer, vielerorts gar nicht mehr möglich. Mangelndes Wissen, systematische Hetze haben sie emotional aufgeblasen und vergiftet. Die Ebene der Sachlichkeit ist nicht mehr erkennbar.
Unabhängig davon, ob sich Menschen nun für Wochen, Monate oder Jahre in Deutschland aufhalten: solange sie bei uns sind, müssen wir eine menschenwürdige Unterbringung, Verpflegung, medizinische Versorgung, Betreuung u.v.m. sicherstellen. Für viele Flüchtlinge wird die Bundesrepublik voraussichtlich für lange Zeit ihr neues Zuhause werden. Und damit werden diese Menschen ein Teil unserer Gesellschaft sein. Ihnen stehen die gleichen Chancen, Rechte und auch Pflichten zu. So wie jedem andern auch. Die Politiker sind nicht nur dem „deutschen Volk“ verpflichtet sondern auch jenen Menschen, die die deutsche Staatsbürgerschaft nicht besitze und sich nur eine Zeit lang in der BRD aufhalten.
Wie durch ein Schreiben des AfD-Vorsitzenden Daniel Roi Anfang August bekannt wurde, plant der Landkreis eine neue Flüchtlingsunterkunft in dem leerstehenden BIG Hotel in Wolfen. Es wurde der Eindruck erweckt, als wolle der Landrat in Hinterzimmern Fakten schaffen und die Bürger vor vollendete Tatsachen stellen. Wie nun bekannt wurde, gibt es zwar Gespräche hinsichtlich der Immobilie, aber auch 10-15 weitere sind kreisweit im Gespräch. Eine Konkretisierung oder gar Entscheidung liegt also gar nicht vor. Der Vorstoß der AfD war also übereilt und ungerechtfertigt. Und in Bezug auf eine so höchst sensible Thematik möchten wir sagen: schädlich!
Derzeit leben in Anhalt-Bitterfeld 1067 Flüchtlinge (Stand: 07.08.2015). Das sind 0,67% gemessen an der Gesamtbevölkerung. Es muss darauf hingewiesen werden, dass die Zahlen sehr stark schwanken. In Bitterfeld-Wolfen leben aktuell ca. 425 Flüchtlinge. Damit nehmen wir 39,8 % aller Asylbewerber auf. Da wirkt zunächst sehr viel. Zu bedenken ist aber, dass Flüchtlinge im Verhältnis zur Bevölkerung auf Städte und Gemeinden verteilt werden. Bitterfeld-Wolfen ist mit ca. 41 000 Einwohnern die einwohnerstärkste Stadt des Landkreises und wird demzufolge immer die größte Anzahl von Asylbewerbern aufnehmen. In Relation machen Asylbewerber derzeit 1,04% der Gesamtbevölkerung in unserer Stadt aus.
Im September und Oktober dieses Jahres werden bis zu 185 weitere Flüchtlinge in Anhalt-Bitterfeld erwartet. Die Zahl wird bis zum Jahresende weiter steigen. Der Landkreis prüft derzeit mehrere Immobilien in gesamten Kreisgebiert, die als mögliche Unterkunft in Frage kommen. Auch die anderen Städte und Gemeinden sind aufgefordert, nach Möglichkeiten zur Unterbringung zu suchen. Die Hauptlast darf nicht allein auf einer Stadt liegen.
Notunterkünfte in Turnhallen, Zeltstädten und Containerdörfern sollten weitestgehend vermieden werden. Sie sind das Ergebnis einer kurzsichtigen Politik der letzten Jahre. Die BRD hatte zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung ca. 4 Millionen Sozialwohnungen. In den folgenden Jahren wurde diese in so großem Umfang nicht mehr benötigt und in vielen Städten verkauft. Der Bestand hat sich mittlerweile auf ca. 1,5 Millionen Wohnungen reduziert. Das ist einer der Gründe, warum die dezentrale Unterbringung von Flüchtlingen heute schwieriger ist als zu Beginn der 1990er Jahre. Hinzu kommt, dass offenbar die Bereitschaft von Vermietern nicht in allen Kommunen besteht. Da ein Ende der „Flüchtlingskrise“ im Moment nicht absehbar ist, müssen wir mittel- und langfristig auch wieder über den Bau neuer Sozialwohnungen diskutieren.
Begriffe wie “massenhafter Asylmissbrauch” sind in dieser Debatte allerdings weder hilfreich noch konstruktiv. Sie sind populistisch und falsch, weil sie suggerieren, dass Menschen, die hier Asyl suchen, kriminell handeln. Damit wird der Nährboden für Vorurteile und Hetze geschaffen, der sich in sozialen Netzwerken in erschreckender Weise entlädt und im schlimmsten Falle Aggressionen und Gewalt gegen Menschen nach sich zieht.